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Aufgabe: Kraftgrößenverfahren
Beispiel
Berechne für den obigen schubstarren ($GA \to \infty$) Balken den Querkraft- und Momentenverlauf mittels Kraftgrößenverfahren.
Gegeben: $EI$, $l$ und $F$
Lösung der Aufgabe
Wir berechnen zunächst die statische Bestimmtheit des Systems:
$f = a + z - 3n$
Das Lager in der Mitte ist ein Loslager und kann nur Kräfte in vertikaler Richtung aufnehmen. Die feste Einspannung links nimmt Kräfte in horizontaler und vertikaler Richtung sowie ein Moment um die $z-$Achse auf. Gelenke sind nicht gegeben.
Insgesamt ergeben sich $a = 4$ Lagerreaktionen und $z = 0$ Gelenkkräfte und damit auch $n = 1$ System.
$f = 4 + 0 - 3 \cdot 1$
$f =1$
Damit ist das System 1-fach statisch unbestimmt.
Merke
Ein Tragwerk ist statisch unbestimmt (bzw. statisch überbestimmt), wenn die Anzahl der Lager- und Verbindungsreaktionen die Anzahl der möglichen Bewegungen eines Körpers übersteigt. Mindestens einer Bewegungsmöglichkeit wirkt mehr als eine Reaktion entgegen. Die Bestimmung der unbekannten Reaktionskräfte ist nur unter Berücksichtigung der Verformung des Körpers möglich.
Die Idee hinter der Kraftgrößenmethode ist es, das System in $f + 1$ statisch bestimmte Systeme zu "zerlegen" und diese anschließend über "Kompatibilitätsbedingungen" wieder zusammenzufügen.
Damit das System statisch bestimmt wird, muss eine Lagerreaktion entfernt werden. Wichtig ist beim Entfernen der Lagerreaktionen, dass das System auch nach der hinreichenden Bedingung statisch bestimmt ist. Dies muss unbedingt mittels Polplan ermittelt werden.
1 Möglichkeit: Die Einspannung links wird durch ein Festlager ersetzt, damit entfernen wir also das Einspannmoment.
0-System
Wir erhalten so das statische bestimmte "0"-System:
Nach der Abzählformel ist das System nun statisch bestimmt. Ist es dies auch nach der hinreichenden Bedingung? Dazu müssen wir den Polplan heranziehen.
Wir haben hier kein Gelenk gegeben, demnach ist der Balken die Scheibe I.
Regel 2: Ein Festlager ist der Hauptpol (1) der dort angeschlossenen Scheibe I.
Regel 3: Der Hauptpol (1) einer Scheibe, die auf einem verschieblichen Lager gelagert ist, liegt auf einer Geraden (Polstrahl) senkrecht zur Bewegungsmöglichkeit dieses Lagers. Das Loslager ist waagerecht verschieblich, demnach ist der Polstrahl eine Senkrechte durch das Loslager. Da der Hauptpol nicht auf dieser senkrechten Geraden liegt, ist ein Widerspruch im Polplan gegeben -> das System ist statisch bestimmt.
1-System
Das entfernte Einspannmoment wird nicht einfach weggelassen, sondern in ein zweites System, das sogenannte "1"-System mit einem Betrag von $1$ übernommen (Einheit Nm oder ein Vielfaches davon).
In das $1$-System wird nur das Einspannmoment als äußere Kraft übernommen. Alle anderen äußeren Kräfte des 0-Systems werden hier nicht berücksichtigt. Die Wirkungslinien der Lagerkräfte des 0-Systems hingegen werden übernommen:
Ist das 0-System statisch bestimmt, so ist auch das 1-System statisch bestimmt, da die Auflagerkräfte des 0-Systems in das 1-System übernommen werden (die Richtungen, nicht die Beträge).
Als Nächstes werden beide Systeme getrennt voneinander betrachtet und für jedes System der Querkraft- und Momentenverlauf berechnet. Zuvor müssen wir die Auflagerkräfte berechnen.
Auflagerkräfte und Schnittgrößen im 0-System
$\rightarrow : A_h = 0$
$\uparrow: A_v + B_v = F$
$\curvearrowleft_A : B_v \cdot l - F \cdot 2l = 0$
$B_v = 2F$
$A_v = F - B_v = F - 2F = -F$
Aus den Gleichgewichtsbedingungen können als Nächstes die Schnittgrößen berechnet werden.
1. Schnitt ($0 \le x \le l$):
$\rightarrow: N_1 = 0$
$\uparrow : -Q_1 + A_v = 0 $
$Q_1 = A_v = -F$
$\curvearrowleft : M_1 - A_v \cdot x = 0$
$M_1 = A_v \cdot x = - F \cdot x$
2. Schnitt ($l \le x \le 2l$):
$\rightarrow: N_2 = 0$
$\uparrow : -Q_2 + A_v + B_v = 0 $
$Q_2 = A_v + B_v = -F + 2F = F$
$\curvearrowleft : M_2 - A_v \cdot x_1 - B_v \cdot (x - l) = 0$
$M_2 = A_v \cdot x_1 + B_v \dot (x - l) = - F \cdot x + 2F \cdot (x - l)$
Die grafischen Schnittgrößenverläufe ergeben sich wie folgt:
Der Querkraftverlauf ist für beide Schnittbereiche konstant.
Der Momentenverlauf ist für beide Schnittbereiche linear. Wir setzen die Randwerte ein:
Schnittbereich 1 :
$M_1 (x = 0) = - F \cdot 0 = 0$
$M_1 (x = l) = - F \cdot l $
Schnittbereich 2:
$M_2 (x = l) = - F \cdot l + 2F \cdot (l - l) = -F \cdot l$
$M_2 (x = 2l) = - F \cdot 2l + 2F \cdot (2l - l) = 0$
Auflagerkräfte und Schnittgrößen im 1-System
Zunächst berechnen wir die Auflagerkräfte des virtuellen Systems. Das Moment mit dem Betrag 1 ist ein rechtsdrehendes Moment und wird innerhalb der Momentengleichgewichtsbedingung berücksichtigt.
$\rightarrow : A_h = 0$
$\uparrow : A_v + B_v = 0$
$\curvearrowleft_A : - 1 + B_v \cdot l = 0$
$B_v = \frac{1}{l}$
$A_v = - B_v = - \frac{1}{l}$
1. Schnittbereich ($0 \le x \le l$):
$\rightarrow: N_1 = 0$
$\uparrow: -Q_1 + A_v = 0$
$Q_1 = A_v = - \frac{1}{l}$
$\curvearrowleft: M_1 - 1 - A_v \cdot x = 0$
$M_1 = A_v \cdot x + 1 = - \frac{1}{l} x + 1$
2. Schnittbereich ($l \le x \le 2l$):
$\rightarrow: N_2 = 0$
$\uparrow : - Q_2 + A_v + B_v = 0$
$Q_2 = A_v + B_v = - \frac{1}{l} + \frac{1}{l} = 0$
$\curvearrowleft : M_2 - 1 - A_v \cdot x - B_v \cdot (x-l) = 0$
$M_2 = 1 + A_v \cdot x + B_v \cdot x - B_v \cdot l $
$M_2 = 1 - \frac{1}{l} \cdot x + \frac{1}{l} \cdot x - \frac{1}{l} \cdot l $
$M_2 = 0$
Die grafischen Schnittgrößenverläufe ergeben sich wie folgt:
Berechnung des Einspannmoments
Nun müssen die Verläufe der beiden Einzelsysteme wieder miteinander vereinigt werden. Dafür benötigen wir die folgenden Beziehungen:
$\varphi_{10} + X_1 \cdot \varphi_{11} = 0 \Rightarrow X_1 = -\frac{\varphi_{10}}{\varphi_{11}}$
Hierbei ist $\varphi_{10}$ die Verdrehung an der Stelle $1$ im $0$-System. Das erste Indize gibt immer die Stelle an, an welcher eine Auflagerkraft im entfernt wurde. Da nur eine Auflagerkraft (Einspannmoment) entfernt worden ist, gibt es auch nur eine Stelle $1$.
$\varphi_{11}$ ist die Verdrehung an der Stelle $1$ im $1$-System.
$X_1$ ist das unbekannte Einspannmoment.
Hinweis
Das Ausgangssystem verdreht sich im Lager $A$ nicht, weil dort die feste Einspannung gegeben. Das Einspannmoment verhindert also eine Drehung um $A$. Das 0-System hingegen verdreht sich an der Stelle $1$, weil dort das Einspannmoment fehlt. Auch das $1$-System verdreht sich an der Stelle $1$, infolge des 1-Moments.
Idee: Die Verdrehungen im 0-System und im 1-System summieren sich zu Null. Wie groß muss also das Einspannmoment sein, damit die Verdrehung im $1$-System genau so groß ist, wie die Verdrehung im $0$-System.
Des Weiteren gilt für die Verdrehung $\varphi$ im 0- und 1-System:
$1 \cdot \varphi_{10} = \int \frac{M_1 \cdot M_0}{EI} dx + \int \frac{Q_1 \cdot Q_0}{GA} dx + \int \frac{N_1 \cdot N_0}{EA} dx $
$1 \cdot \varphi_{11} = \int \frac{M_1 \cdot M_1}{EI} dx + \int \frac{Q_1 \cdot Q_1}{GA} dx + \int \frac{N_1 \cdot N_1}{EA} dx $
Da wir jedoch keine Normalkräfte haben und wegen der Schubstarrheit $G \rightarrow \infty$ gilt, vereinfacht sich die Formel zu:
$1 \cdot \varphi_{10} = \int \frac{M_1 \cdot M_0}{EI} dx $
$1 \cdot \varphi_{11} = \int \frac{M_1 \cdot M_1}{EI} dx $
Da wir zwei Schnittbereiche gegeben haben, gilt:
Methode
$1 \cdot \varphi_{10} = \int_0^l \frac{M_1 \cdot M_0}{EI} dx + \int_l^{2l} \frac{M_1 \cdot M_0}{EI} dx$
$1 \cdot \varphi_{11} = \int_0^l \frac{M_1 \cdot M_1}{EI} dx + \int_l^{2l} \frac{M_1 \cdot M_1}{EI} dx$
Zur Lösung der Integralen verwenden wir die Koppeltafel. Diese findet sich links im Ordner Materialien.
Für die Anwendung der Koppeltafel benötigen wir die grafischen Schnittgrößenverläufe. Wir beginnen mit der Verschiebung $\varphi_{10}$ im 0-System und vergleichen die Momentenverläufe des 0-Systems und des 1-Systems für die jeweiligen Schnittbereiche miteinander.
Verdrehung im 0-System
1. Schnittbereich: ($0 \le x \le l$)
0-System: dreieckiger Verlauf mit Höhe $-F \cdot l$
1-System: dreieckiger Verlauf mit Höhe $1$
Die Höhen der Dreiecke sind auf unterschiedlichen Seiten, demnach erhalten wir aus Zeile 2 und Spalte 3:
$\int_0^l M_1 \cdot M_0 dx = \frac{1}{6} lik$
Dabei ist $l = l$ die Länge des Schnittbereichs, $i = -F \cdot l$ die Höhe des einen Dreiecks und $k = 1$ die Höhe des anderen Dreiecks.
$\int_0^l M_1 \cdot M_0 dx = \frac{1}{6} \cdot l \cdot (-F \cdot l) \cdot 1$
2. Schnittbereich: ($l \le x \le 2l$)
0-System: dreieckiger Verlauf mit Höhe $-F \cdot l$
1-System: 0
Da ein Verlauf 0 ist, wird der gesamte Term zu Null.
Verdrehung im 0-System berechnen:
$1 \cdot \varphi_{10} = \int_0^l \frac{M_1 \cdot M_0}{EI} dx + \int_l^{2l} \frac{M_1 \cdot M_0}{EI} dx$
Einsetzen der Werte:
$1 \cdot \varphi_{10} = \frac{ \frac{1}{6} \cdot l \cdot (-F \cdot l) \cdot 1}{EI} + 0$
$1 \cdot \varphi_{10} = \frac{-F \cdot l^2}{6 \cdot EI}$
Methode
$\varphi_{10} = \frac{-F \cdot l^2}{6 \cdot EI}$ Verdrehung im 0-System an der Stelle 1
Verdrehung im 1-System
Für die Verdrehung im 1-System müssen nur die Schnittgrößenverläufe des 1-Systems betrachtet werden.
1. Schnittbereich: ($0 \le x \le l$)
1-System: dreieckiger Verlauf mit Höhe $1$
Beide Verläufe sind demnach im 1-System identisch. Diese finden wir in der Koppeltafel in der Spalte 2 und Zeile 2:
$\int_0^l M_1 \cdot M_0 dx = \frac{1}{3} lik$
$\int_0^l M_1 \cdot M_0 dx = \frac{1}{3} \cdot l \cdot 1 \cdot 1$
2. Schnittbereich: ($l \le x \le 2l$)
1-System: 0
Da der Verlauf 0 ist, wird der gesamte Term zu Null.
Verdrehung im 1-System berechnen:
$1 \cdot \varphi_{11} = \int_0^l \frac{M_1 \cdot M_1}{EI} dx + \int_l^{2l} \frac{M_1 \cdot M_1}{EI} dx$
Einsetzen der Werte:
$1 \cdot \varphi_{11} = \frac{\frac{1}{3} \cdot l \cdot 1 \cdot 1}{EI} + 0$
$1 \cdot \varphi_{11} = \frac{l}{3 \cdot EI}$
Methode
$\varphi_{11} = \frac{l}{3 \cdot EI}$ Verdrehung im 1-System an der Stelle 1
Danach können wir die Superposition der Verdrehungen anwenden:
$\Rightarrow X_1 = -\frac{\varphi_{10}}{\varphi_{11}} = \frac{1}{2} Fl$
$X_1 = -\frac{\frac{-F \cdot l^2}{6 \cdot EI}}{\frac{l}{3 \cdot EI}} = \frac{1}{2} F \cdot l$
Daraus folgen schließlich die Schnittgrößenverläufe des Ausgangssystems mit:
Methode
$Q_{ges} = Q^0 + X_1 \cdot Q^1$
$M_{ges} = M^0 + X_1 \cdot M^1$
Querkraftverlauf
Methode
$Q_{ges} = Q^0 + \frac{1}{2} F \cdot l \cdot Q^1$
1. Schnittbereich:
$Q_{1, ges} = -F + \frac{1}{2} F \cdot l \cdot (-\frac{1}{l}) = -\frac{3}{2} F$
2. Schnittbereich:
$Q_{2, ges} = F + \frac{1}{2} F \cdot l \cdot 0 = F$
Momentenverlauf
Methode
$M_{ges} = M^0 + \frac{1}{2} Fl \cdot M^1$
1. Schnittbereich:
$M_{1,ges} = - F \cdot x + \frac{1}{2} Fl \cdot (- \frac{1}{l} x + 1) = -\frac{3}{2} F \cdot x + \frac{1}{2} F \cdot l$
2. Schnittbereich:
$M_{2, ges} = - F \cdot x + 2F \cdot (x - l) + \frac{1}{2} F \cdot l \cdot 0 = - F \cdot x + 2F \cdot (x - l)$
Die grafischen Schnittgrößenverläufe des Ausgangssystems ergeben sich dann wie folgt:
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