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Baustatik 1 - Prinzip der virtuellen Kräfte (PdvK)

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Baustatik 1

Prinzip der virtuellen Kräfte (PdvK)

Tragwerke können sich infolge äußerer Belastungen an bestimmten Stellen vertikal und/oder horizontal verschieben bzw. verdrehen. Diese Verschiebungen/Verdrehungen können mithilfe des Prinzips der virtuellen Kräfte bestimmt werden.

Merke

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Die Idee des Prinzips der virtuellen Kräfte (kurz: PdvK) ist es, eine virtuelle Kraftgröße aufzubringen, welche auf der gesuchten Verschiebung Arbeit leistet.

Prinzip der virtuellen Kräfte (PvK)
Prinzip der virtuellen Kräfte (PdvK)

 

Bei Betrachtung der obigen Grafik sehen wir einen Balken, welcher durch die Kraft $F$ belastet wird. Wollen wir nun die vertikale Verschiebung im Punkt $c$ bestimmen, so betrachten wir zusätzlich ein virtuelles System und setzen im Punkt $c$ eine virtuelle Kraftgröße mit der Größe 1 an. Verformt sich das Ausgangssystem infolge der äußeren Kraft $F$, so lassen wir das virtuelle System simultan verformen. Die virtuelle Kraftgröße leistet im virtuellen System über den Weg $d$ virtuelle Verschiebungsarbeit.

Hinweis

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Wir gehen also davon aus, dass die virtuelle Kraftgröße $\overline{1}$ im virtuellen System bereits vor der Verformung vorhanden ist. Verformt sich dann das virtuelle System simultan mit dem Ausgangssystem, so leistet die virtuelle Kraftgröße Verschiebungsarbeit.


Wir wissen bereits aus den vorherigen Abschnitten, dass die äußere Arbeit gleich der negativen inneren Arbeit ist. Hier gilt, dass die virtuelle äußere Verschiebungsarbeit gleich der virtuellen inneren Verschiebungsarbeit ist (virtuellen Größen werden durch Überstreichen gekennzeichnet):

Methode

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$\overline{W}_a = - \overline{W}_i$

Die virtuelle innere Verschiebungsarbeit ist dabei die innere Verschiebungsarbeit der virtuellen Schnittgrößen auf den Verformungen des wirklichen Zustandes. 

Merke

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Wir schaffen also ein virtuelles System und setzen dort eine virtuelle Kraft an der Stelle der gesuchten Verschiebung an. Wird nun infolge der äußeren Lasten das Ausgangssystem verformt, so lassen wir das virtuelle System simultan verformen. Die virtuelle Kraft leistet also Verschiebungsarbeit. Demnach leisten auch die virtuellen Schnittgrößen Verschiebungsarbeit. 

Berechnung der Verschiebung

Nach dem Prinzip der virtuellen Kräfte wird zur Bestimmung der Verschiebung $d$ in einem System ein zusätzliches virtuelles System aufgestellt, in welchem eine virtuelle Kraft $\overline{1}$ (mit der Größe 1) an der Stelle wirkt, an welcher die Verschiebung erfolgt. Die virtuelle Kraftgröße mit dem Betrag 1 leistet demnach äußere virtuelle Verschiebungsarbeit von:

Methode

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$\overline{W}_a = \overline{1} \cdot \delta_j$

Der Index $j$ steht für die Stelle der Verschiebung. Sind mehrere Verschiebungspunkte gesucht, so müssen mehrere virtuelle Systeme aufgestellt werden.

 

Die virtuelle innere Verschiebungsarbeit ergibt sich zu: 

Methode

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$-\overline{W}_i = \int [ \frac{\overline{N} N}{EA} + \overline{N} \alpha_{th} \cdot T_0 $

       $+ \frac{\overline{Q} Q}{GA_s} $

       $+ \frac{\overline{M} M }{EI} + \overline{M} \alpha_{th}\cdot \frac{\triangle T}{h}$

       $+ \frac{\overline{M}_{T} M_{T}}{G I_P}] dx$


$\overline{N}$, $\overline{M}$, $\overline{Q}$, $\overline{M_T}$ sind die Schnittgrößen aus den virtuellen Kräften $\overline{1}$

$N$, $M$, $Q$, $M_T$ sind die Schnittgrößen aus der tatsächlichen Belastung

Merke

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Sind $EA$ und $EI$ konstant, so erfolgt die Auswertung der Integrale mittels Koppeltafel.

 

Bei Fachwerken gilt:

Methode

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$ -\overline{W}_i = \sum_i \frac{S_i \cdot \overline{S}_i \cdot l_i}{(EA)_i}$


Vorgehensweise beim PvK

  • Berechnung der Lagerkräfte und Schnittgrößen am Ausgangssystem mittels der Gleichgewichtsbedingungen am unverformten System.
  • Aufstellung des virtuellen Systems mit der Kraftgröße $\overline{1}$ in Richtung der Verschiebung $\delta$. Die äußeren Belastungen des Ausgangssystems werden im virtuellen System nicht berücksichtigt.
  • Bestimmung der Auflagerkräfte und Schnittgrößen mittels der Gleichgewichtsbedingungen am unverformten virtuellen System. 
  • Anwendung des PvK mit $\overline{W}_a = -\overline{W}_i$.

 

Wir wollen im Folgenden ein Beispiel zur Anwendung des Prinzips der virtuellen Kräfte (PvK) aufzeigen.

Beispiel: PvK am Balken

Beispiel Prinzip der virtuellen Kräfte
Beispiel: PvK

 

Beispiel

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Gegeben sei der obige Kragträger mit der Länge $l = 2m$, welcher am Ende durch zwei Kräfte $F_v = 10 kN$ und $F_h = 1 kN$ belastet wird. Es gilt weiterhin $EI = const = 30.000 kNm^2$, $EA = 10.000 kN$.

Bestimme die vertikale Verschiebung $d$ am Ende des Kragträgers bei $x = l$.

Um die obige Aufgabe lösen zu können, gehen wir wie folgt vor:

Lagerkräfte und Schnittgrößen am Ausgangssystem

Wir beginnen zunächst damit die Lagerkräfte und Schnittgrößen am Ausgangssystem zu bestimmen. Die Lagerkräfte ergeben sich aus den Gleichgewichtsbedingungen zu:

PvK - Freischnitt Balken
Freischnitt Balken

 

$\rightarrow : A_h - F_h = 0$   $\Rightarrow A_h = F_h = 1 kN$.

$\uparrow : A_v - F_v = 0$  $\Rightarrow A_v = F_v = 10 kN$.

$\curvearrowleft : M_A - F_v \cdot l = 0$  $\Rightarrow M_A = F_v \cdot l = 20 kNm$

Um die Schnittgrößen bestimmen zu können wird ein gedanklicher Schnitt durch den Balken durchgeführt:

PvK - Schnittgrößen
Schnittgrößen

 

Die Schnittgrößen ergeben sich aus den Gleichgewichtsbedingungen am linken Schnittufer zu:

$\rightarrow : A_h + N = 0$  $\Rightarrow N = -A_h = -1 kN$

$\uparrow : A_v - Q = 0$  $\Rightarrow Q = A_v = 10 kN$.

$\curvearrowleft : M + M_A - A_v \cdot x = 0$  $\Rightarrow M = -M_A + A_v \cdot x = -20 kNm + 10 kN \cdot x$


Als Nächstes muss die Verschiebung identifiziert werden. Der Balken wird sich infolge der Kraft $F_v$ nach unten absenken. Die Verschiebung $d$ ist dabei die Unbekannte, die berechnet werden soll:

PvK - Verschiebung und virtuelles System
Verschiebung und virtuelles System

 

Die Verschiebung erfolgt also um $d$ nach unten. Das virtuelle System verschiebt sich ebenfalls um $d$ nach unten, demnach leistet die virtuelle Kraftgröße $\overline{1}$ Verschiebungsarbeit von:

$\overline{W}_a = \overline{1} \cdot d$.

Es können als Nächstes die Auflagerkräfte und Schnittgrößen im virtuellen System bestimmt werden:

Lagerkräfte und Schnittgrößen am virtuellen System
Virtuelles System

 

Die Auflagerkräfte des virtuellen Systems ergeben sich aus den Gleichgewichtsbedingungen:

$\rightarrow : A_h  = 0$  

$\uparrow : A_v - \overline{1} = 0$  $\Rightarrow A_v = \overline{1} kN$.

$\curvearrowleft : M_A - \overline{1} \cdot l = 0$  $\Rightarrow M_A = \overline{1} kN \cdot 2m$


Die Schnittgrößen des virtuellen Systems ergeben sich aus den Gleichgewichtsbedingungen wie folgt:

$\rightarrow : A_h + \overline{N} = 0$  $\Rightarrow \overline{N} = -A_h = 0$

$\uparrow : A_v - \overline{Q} = 0$  $\Rightarrow \overline{Q} = A_v = \overline{1} kN$.

$\curvearrowleft : \overline{M} + M_A - A_v \cdot x = 0$  $\Rightarrow \overline{M} = -M_A + A_v \cdot x = -\overline{1} kN \cdot 2m + \overline{1} kN \cdot x$

Wir haben nun alle Schnittgrößen der beiden Systeme bestimmt. In der Aufgabenstellung ist die Dehnsteifigkeit $EA$ und die Biegesteifigkeit $EI$ angegeben. Die Schubsteifigkeit $GA_s$ ist nicht in der Aufgabenstellung gegeben. Das bedeutet grundsätzlich, dass diese gegen unendlich konvergiert (Annahme) und damit das Integral gegen Null. Demnach werden die Integrale bei der Berechnung nicht berücksichtigt. Die Querkraft hätte also oben nicht bestimmt werden müssen. Ferner treten weder Torsionsbeanspruchungen noch Temperaturbeanspruchungen auf. Wir erhalten demnach die virtuelle innere Verschiebungsarbeit von:

$-\overline{W}_i = \int \frac{\overline{N} N}{EA} dx + \int \frac{\overline{M} M}{EI} dx$


Es gilt:

$\overline{W}_a = -\overline{W}_i$

und damit:

Methode

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$\overline{1} \cdot d  = \int \frac{\overline{N} N}{EA} dx + \int \frac{\overline{M} M}{EI} dx$


Zur Bestimmung der Verschiebung $d$ können wir entweder die Werte einsetzen und die Integrale berechnen oder wir verwenden die Koppeltafel  zur Lösung der Integrale. Die Koppeltafel kann hier auf beide Integrale angewendet werden, weil $EI$ und $EA$ konstant sind. 

Wir lösen die Gleichung zunächst ohne Anwendung der Koppeltafel.

Berechnung der Verschiebung d ohne Koppeltafel

Es gilt:

$N = -1 kN$, $M =  -20 kNm + 10 kN \cdot x$

$\overline{N} = 0$, $\overline{M} = - \overline{1} kN \cdot 2m + \overline{1} kN \cdot x$

Mit $\overline{1} kN = 1 kN$ ergibt sich:

$\overline{M} = -2kNm + 1 kN \cdot x$

$EI = 30.000 kNm^2$, $EA = 10.000 kN$.

Einsetzen führt zu:

$1 kN \cdot d = \int \frac{0 \cdot (-1 kN) }{10.000 kN} dx + \int \frac{(-2kNm + 1 kN \cdot x) \cdot (-20 kNm + 10 kN \cdot x)}{30.000 kNm^2} dx$

Es gilt nun die Integrale zu lösen. Das erste Integral wird zu Null:

$1 kN \cdot d = \int \frac{(-2kNm + 1 kN \cdot x) \cdot (-20 kNm + 10 kN \cdot x) }{30.000 kNm^2} dx$

Da $EI$ konstant ist, können wir dieses vor das Integral ziehen:

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} \int  (-2kNm + 1 kN \cdot x) \cdot (-20 kNm + 10 kN \cdot x) dx$


Ausmultiplikation der Klammern:

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} \int (40 kNm^2 - 20kNm \cdot x - 20kNm \cdot x + 10 kN \cdot x^2) dx$


Zusammenfassung der Klammer:

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} \int (40 kNm^2  - 40 kNm \cdot x + 10 kN \cdot x^2) dx$

Integral berechnen:

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} \int_0^x (40 kNm^2 - 40 kNm \cdot x + 10 kN \cdot x^2) dx$

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} (40 kNm^2 \cdot x - \frac{1}{2} \cdot 40 kNm \cdot x^2 + \frac{1}{3} 10 kN \cdot x^3)$

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} (40 kNm^2 \cdot x - 20 kNm \cdot x^2 + \frac{10}{3} kN \cdot x^3)$

Wir berechnen die Verschiebung für das Balkenende bei $x = l = 2m$ :

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} (40 kNm^2 \cdot 2m - 20 kNm \cdot (2m)^2 + \frac{10}{3} kN \cdot (2m)^3)$

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} (80 kNm^3 - 80 kNm^3  + \frac{80}{3} kNm^3)$

$1 kN \cdot d = \frac{1}{30.000 kNm^2} ( \frac{80}{3} kNm^3)$

$1 kN \cdot d = 0,000889 kNm$


Auflösen nach $d$:

$d =0,00089 m = 0,89 mm$

Die vertikale Verschiebung am Balkenende beträgt $d = 0,89 mm$.

Anwendung der Koppeltafel zur Berechnung der Verschiebung

Wir wollen als nächste die Koppeltafel heranziehen, um die Aufgabe zu lösen. Bei der Verwendung der Koppeltafel müssen die grafischen Schnittgrößenverläufe vorliegen. Wir wissen, dass das Integral mit der Normalkraft zu Null wird, aufgrund von $\overline{N} = 0$. Wir benötigen also nur die Momentenlinien für das Ausgangssystem und für das virtuelle System:

Momentenlinien des virtuellen Systems und Ausgangssystems (PvK)
Momentenlinien

 

In der obigen Grafik sind die Momentenlinien des virtuellen Systems und des Ausgangssystems zu sehen. Bei $x = 0$, also am Balkenanfang, ist das Moment im Ausgangssystem -20 kNm groß und das Moment im virtuellen System -2 kNm. Gehen wir von einer nach unten gerichteten $z$-Achse aus, wobei die $x$-Achse auf der Balkenachse liegt, so muss der negative Bereich oberhalb des Balkens liegen. Am Balkenende bei $x = l = 2m$ sind die Momente für beide Systeme gleich Null. Es ergibt sich demnach in beiden Systemen ein linearer Verlauf der Momentenlinie. Beide dreieckigen Verläufe weisen am selben Ende den Schnittpunkt mit der $x$-Achse auf bzw. haben die Höhe des Dreiecks auf der gleichen Seite. Demnach suchen wir nach zwei gleichen dreieckigen Verläufe in der Koppeltafel:

In Zeile 2 und Spalte 2 der Koppeltafel erhalten wir diese Momentenverläufe:

$\int M \cdot \overline{M} = \frac{1}{3} lik$

Es gilt:

$l = 2m$, $ i = -20$ und $k = -2$ (alternativ: $i = -2$ und $k = -20$).

Einsetzen:

$\int M \cdot \overline{M} = \frac{1}{3} \cdot  2m \cdot (-20) kNm \cdot (-2) kNm $

$\int M \cdot \overline{M} = \frac{80}{3} kNm^3 $

Wir müssen nun noch $EI$ berücksichtigen:

 $\int \frac{M \cdot \overline{M}}{EI} = \frac{1}{30.000 kNm^2} \cdot \frac{80}{3} kNm^3 $

Setzen wir dies nun mit der virtuellen Arbeit gleich, erhalten wir:

$\overline{1} kN \cdot d =  \frac{1}{30.000 kNm^2} \cdot \frac{80}{3} kNm^3 $

$d = 0,00089 m = 0,89 mm$

Das Ergebnis ist natürlich identisch. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Berechnung des Integrals über die Koppeltafel schneller und einfacher ausfällt. Bei der Berechnung der Integrale ohne Anwendung der Koppeltafel ist der Rechenaufwand sehr hoch, was zu Flüchtigkeitsfehlern führen kann und damit zu einem falschen Ergebnis. Bei der Berechnung der Koppeltafel müssen aber zusätzlich die grafischen Schnittgrößenverläufe vorliegen, diese können aber schnell und gegebenfalls mittels einer Skizze aufgezeichnet werden.