Bisher wurden Verformungen am und im Bauteil vernachlässigt. Tatsächlich treten aber Verformungen am und im Bauteil infolge der von außen auf das Bauteil wirkenden Kräfte auf. Innerhalb der Baustatik gehen wir von sehr kleinen Verformungen des Tragwerks aufgrund der äußeren Belastung aus. Hier findet die Theorie I. Ordnung ihre Anwendung:
Merke
Bei der sogenannten Theorie I. Ordnung wird angenommen, dass die Verformungen eines Bauteils klein sind. Die Gleichgewichtsbedingungen können am unverformten Tragwerk aufgestellt werden.
Die Annahme kleiner Verformungen innerhalb der Baustatik ist deshalb zulässig, weil große Verformungen unter anderem dazu führen würden, dass die Gebrauchstauglichkeit des Tragwerks nicht gegeben ist. Das Ziel der Baustatik ist deshalb ein Tragwerk zu konstruieren, welches infolge der äußeren Belastungen nur kleine Verformungen aufweist.
Die elastischen Verformungen sind sehr klein gegenüber den Abmessungen des Tragwerks. Damit ist die Längenänderung $\Delta l$ vernachlässigbar klein gegenüber der Ausgangslänge $l$, so wie auch die Winkeländerungen $\varphi$.
Damit ergeben sich bei der Berechnung eines Winkels mittels Sinus, Cosinus und Tangens folgende Vereinfachungen:
Methode
$\sin \varphi = \varphi$
$\tan \varphi = \varphi$
$\cos \varphi = 1$
In der nachfolgenden Grafik sind die Vereinfachungen visualisiert:
Im Gegensatz zur Theorie I. Ordnun,g bei welcher die Gleichgewichtsbedingungen am unverformten System aufgestellt werden, werden bei der Theorie II. Ordnung die Gleichgewichtsbedingungen am verformten System aufgestellt.
In der obigen Grafik sind die Theorien I. und II. Ordnung gegenübergestellt. Zu sehen ist ein Balken, welcher am Balkenende durch die zwei Kräfte $F_h$ und $F_v$ belastet wird. Aufgrund der äußeren Kraft $F_v$ senkt sich der Balken um $\delta$ nach unten ab. Bei der Theorie I. Ordnung wird die auftretende Verformung des Balkens (=Absenkung um $\delta$) vernachlässigt und die Gleichgewichtsbedingungen am unverformten System aufgestellt. Diese Vorgehensweise ist dann zulässig, wenn die Verformungen so klein sind, dass sie die Ergebnisse der Berechnung nur unwesentlich beeinflussen. Die Verformungen können dann separat mittels unterschiedlicher Verfahren, wie z. B. Prinzip der virtuellen Kräfte oder Satz von Castigliano berechnet werden. Bei Anwendung der Theorie II. Ordnung hingegen, werden die Verformungen bereits innerhalb der Gleichgewichtsbedingungen berücksichtigt, d. h. die Gleichgewichtsbedingungen werden am verformten System aufgestellt. Zwar handelt es sich auch hier um kleine Verformungen, jedoch groß genug, dass sie die Ergebnisse der Berechnung beeinflussen.
Hinweis
Innerhalb dieses Kurses wird ausschließlich die Theorie I. Ordnung behandelt. Die Gleichgewichtsbedingungen werden also am unverformten System aufgestellt. Die Verformungen werden separat berechnet.
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