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Die Belastbarkeit von Werkstoffen wird üblicherweise nur für wenige Belastungsarten, oft nur im Zugversuch, ermittelt. Um die Belastbarkeit für die unendlichen Kombinationsmöglichkeiten von verschiedenen überlagerten Spannungen nicht alle experimentell ermitteln zu müssen, wurde die "Vergleichsspannung" erfunden. Für verschiedene Konstellationen von Werkstoffen und Belastungen werden dazu verschiedene Hypothesen zugrunde gelegt, nach denen aus den überlagerten verschieden gerichteten Belastungen entsprechend einer Formel die Vergleichsspannung errechnet wird, die mit der Zugfestigkeit eben vergleichbar ist. So wird ein mehrachsiger Spannungszustand mit dem einachsigen Spannungszustand des Zugversuchs vergleichbar gemacht.
Der Weg zur Zusammenführung mehrerer Belastungen
Zunächst werden alle gleichartigen Spannungen vektoriell addiert: $\vec{\sigma_{res}} = \vec{\sigma_{z,d}} + \vec{\sigma_b}$ und $\vec{\tau_{res}} = \vec{\tau_s} + \vec{\tau_t}$; bei gleicher Vektorrichtung können die Spannungen jeweils skalar addiert werden.
Wenn ausschließlich Schubspannung oder ausschließlich Normalspannung vorliegt, wird die jeweilige resultierende Spannung für den Vergleich mit den Werkstoffkennwerten und die Berechnung der Sicherheit verwendet. Die Berechnung einer Vergleichsspannung ist dann noch nicht erforderlich.
Liegt sowohl Schubspannung als auch Normalspannung vor, muss die Vergleichsspannung berechnet werden.
Welche Hypothese für die Berechnung der Vergleichsspannung zugrunde gelegt wird richtet sich nach dem Lastfall und der Beschaffenheit des Werkstoffes. Die Werkstoffe werden dabei kategorisiert nach dem Verhältnis der kritischen Normalspannung zur kritischen Tangentialspannung: $\dfrac{\sigma_{grenz}}{\tau_{grenz}}$
Die gängigsten drei Hypothesen zur Berechnung der Vergleichsspannung
NormalspannungsHypothese (NH)
Die Formel nach der Normalspannungshypothese darf angewendet werden, wenn der Werkstoff spröde ist ($\dfrac{\sigma_{grenz}}{\tau_{grenz}} = 1$) und anzunehmen ist dass der Bruch senkrecht zur Richtung der größten Normalspannung erfolgt; die anderen Hauptspannungen werden nicht berücksichtigt.
Mit Bezug auf den Mohr'schen Spannungskreis ist die größte Hauptspannung $\sigma_1 > \sigma_2$ und $\sigma_1 > \sigma_3$, womit $\sigma_{v(N)} = \sigma_{max} = |\sigma_1|$ ist.
Die Vergleichsspannung nach Normalspannungshypothese wird aus den Beträgen der resultierenden Normal- und Tangentialspannungen dann wie folgt gebildet:
$\sigma_{v(N)} = 0,5(\sigma_{res} + \sqrt{{\sigma_{res}}^2 + 4 * {\tau_{res}}^2}$
SchubspannungsHypothese (SH)
Bei duktilen (also zähen) Werkstoffen mit ausgeprägter Streckgrenze ($\dfrac{\sigma_{grenz}}{\tau_{grenz}} = 2$), bei denen also unter Belastung das Gefüge stark gleitet, kann mit einem Gleitbruch als vorrangige Versagensart gerechnet werden. Entsprechend ist die größte Schubspannung das maßgebliche Kriterium, die Vergleichsspannung wird dann so errechnet:
$\sigma_{v(S)} = \sqrt{{\sigma_{res}}^2 + 4 * {\tau_{res}}^2}$
Dieser Fall ist in der Praxis eher selten, da solche Werkstoffe für Konstruktionsbauteile wenig gebräuchlich sind.
GestaltänderungsEnergieHypothese (GEH)
Die Formel der Gestaltänderungsenergiehypothese wird in der Praxis sehr oft eingesetzt. Sie gilt für duktile Werkstoffe, also die meisten für Maschinenelemente verwendeten Stähle ($\dfrac{\sigma_{grenz}}{\tau_{grenz}} = 1,73$) und die Annahme dass plastische Verformung die vorrangige Versagensart ist. Ihren Namen verdankt diese Hypothese dem Gedanken, dass die Vergleichsspannung dieselbe Formänderungsarbeit hervorrufen würde wie die verschiedenen Spannungsarten zusammen. Der Eintritt plastischer Verformung ist also das Versagenskriterium.
Die Vergleichsspannung nach Gestaltänderungsenergiehypothese wird berechnet mit der Formel:
$\sigma_{v(GE)} = \sqrt{{\sigma_{res}}^2 + 3 * {\tau_{res}}^2}$
Expertentipp
In der Praxis dominiert bei der Auslegungsberechnung meist eine Spannungsart deutlich. Bei rotierenden Maschinenelementen, die einer äußeren Biegebeanspruchung ausgesetzt sind (z. B. angetriebene Arbeitswalze einer Walzmaschine) ist die Torsionsspannung meist im Vergleich zur Biegespannung eher gering, teils vernachlässigbar. Umgekehrt ist die aus der Radialkraft der Verzahnung resultierende Biegespannung in einer Welle eines Stirnradgetriebes normalerweise eher gering.
Maxima nach Belastungsart in unterschiedlichen Lastfällen
Im zeitlichen Verlauf der Beanspruchung treten die Maxima verschiedener Belastungsarten manchmal zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf, zum Beispiel ist die Normalspannung maximal zu dem Zeitpunkt wo die Tangentialspannung im mittleren Bereich liegt.
Wenn die maximale Tangential- und Normalspannung bei unterschiedlichen Lastfällen auftreten, kann der Tangentialspannung bei allen drei Hypothesen das Anstrengungsverhältnis $\alpha_0 = \dfrac{\sigma_{grenz}}{\phi * \tau_{grenz}}$ als Faktor vorangestellt werden. Dabei wird $\sigma_{grenz} = \sigma_{zul}$ und $\tau_{grenz} = \tau_{zul}$ des betrachteten Werkstoffes verwendet und $\phi$ als das für die jeweilige Hypothese relevante Verhältnis der kritischen Spannungen ist (NH: 1 | GEH: 1,73 | SH: 2).
Die Überlagerung muss jedoch immer mit allen maximalen Spannungen berechnet werden, wenn grundsätzlich möglich ist, dass beide gleichzeitig auftreten. Nur wenn das ausgeschlossen ist, was eher selten vorkommt, darf dieses Verfahren angewendet werden.
Vorsicht
Wenn verschiedenartige Belastungen überlagert auftreten muss der Festigkeitsnachweis grundsätzlich für jede Belastungsart einzeln durchgeführt werden, die Berechnung mit der Vergleichsspannung alleine reicht nicht. Das entscheidende Kriterium wird in der Praxis allerdings meist die Vergleichsspannung sein.
Verformungen bei überlagerten Belastungen
Die Verformung bei solchen überlagerten Belastungen kann mit der Methode der "passiven Formänderungsarbeit" aus der Technischen Mechanik gelöst werden. Die Einzelverformungen der hier beschriebenen Grundbelastungen werden dabei mit einer virtuellen Kraft bzw. einem virtuellen Moment "1" unter Zuhilfename von Integraltafeln überlagert. Diese Methode ist sehr praktisch und gar nicht so schwer wie sie auf den ersten Blick aussieht, würde im Fach Maschinenelemente aber zu weit führen.
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