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Die im vorherigen Abschnitt gezeigten Methoden zur Ermittlung von Spannungen und Verformungen können auch auf statisch bestimmte Stabwerke mit mehreren Stäben übertragen werden. Es wird davon ausgegangen, dass nur sehr kleine Stablängenänderungen $\triangle l$ auftreten, so dass die Verschiebungen der Stäbe ebenfalls sehr klein ausfallen. Das bedeutet, dass die Geometrie des Stabsystems durch die Belastung nur wenig verändert wird und somit die Stabkräfte am unverformten System ermittelt werden können. Die Vorgehensweise erfolgt nach folgendem Schema:
1. Aus den Gleichgewichtsbedingungen am unverformten System werden die Stabkräfte ermittelt.
2. Die Stablängenänderung $\triangle l$ wird infolge der Stabkräfte ermittelt.
3. Die Verschiebungen werden grafisch skizziert und dann berechnet (z.B. durch Trigonometrie).
Anwendungsbeispiel: Stabzweischlag
Beispiel
Gegeben sei der obige Stabzweischlag. Die Dehnsteifigkeit $EA$ sei für beide Stäbe gleich. Wie groß ist die Verschiebung des Knotens $K_2$, wenn die vertikale Kraft $F$ angreift?
Gleichgewichtsbedingungen
Als erstes wird die vertikale Gleichgewichtsbedingung (y-Richtung) betrachtet:
(1) $\uparrow : -F - S_2 \sin (\alpha) = 0$
Danach wird die horizontale Gleichgewichtsbedingung (x-Richtung) betrachtet:
(2) $\rightarrow : -S_1 - S_2 \cdot \cos (\alpha) = 0$
Aus (1) folgt:
$S_2 = \frac{-F}{\sin (\alpha)}$
Einsetzen in (2):
$-S_1 + \frac{F}{\sin (\alpha)} \cdot \cos (\alpha) = 0$
Merke
Trigonometrische Umformung:
$\tan (x) = \frac{\sin (x)}{\cos (x)} $
$-S_1 + \frac{F}{\tan (\alpha)} = 0 \rightarrow S_1 = \frac{F}{\tan (\alpha)} $
Längenänderung
Die Längenänderung für konstante Dehnsteifigkeit, wobei nur eine Kraft $F$ wirkt, ergibt sich mit:
Methode
$\triangle l = \frac{N \cdot l}{EA} + \alpha{_th} \triangle T \cdot l$
Da der Stab hier keiner Temperaturveränderung unterliegt, ist $\triangle T = 0$:
$\triangle l = \frac{N \cdot l}{EA}$
Anstelle von $N$ treten nun die Stäbe $S_1$ sowie $S_2$ mit:
$\triangle l_1 = \frac{S_1 \cdot l}{EA} = \frac{F \cdot l}{EA \tan (\alpha)}$
Der Stab $S_1$ besitzt die Länge $l_1 = l$.
$\triangle l_2 = \frac{S_2 \cdot l}{EA} = -\frac{F \cdot l}{EA \sin (\alpha) \cos (\alpha)}$.
Der Stab $S_2$ besitzt die Länge $l_2 = \frac{l}{\cos (\alpha)}$ (siehe Winkelberechnung eines Dreiecks).
Es ist ersichtlich, dass der Stab $S_1$ länger wird (positive Längenänderung $\triangle l_1$) und dass der Stab $S_2$ kürzer wird (negative Längenänderung $\triangle l_2$).
Verschiebung
Als nächstes soll die Verschiebung des Knotens $K_2$ in vertikale und in horizontale Richtung betrachtet werden. Dies kann man anhand einer Skizze berechnen. Man weiß nun, dass der Stab $S_1$ sich verlängert (man zeichnet diesen also verlängert ein) und sich der Stab $S_2$ verkürzt (man zeichnet diesen verkürzt ein):
Der Stab $S_2$ wurde um $\triangle l_2$ verkürzt und der Stab $S_1$ um $\triangle l_1$ verlängert. Es wurde eine Linie der verlängerten Seite von $S_1$ nach unten gezogen (im rechten Winkel). Das Gleiche wurde mit der verkürzten Seite von $S_2$ durchgeführt (ebenfalls im rechten Winkel). Dort wo die Linien sich schneiden, befindet sich die neue Lage des Knotens $K'_2$:
Als Nächstes wird der Ausgangsknoten $K_2$ mit dem verschobenen Knoten $K'_2$ verbunden, indem eine vertikale Linie nach unten gezogen (grüne Linie) wird und dann eine horizontale Linie zum Knoten hin (orange Linie). $v$ ist dabei die Vertikalverschiebung und $u$ die Horizontalverschiebung. Es entstehen zwei Dreiecke. Diese können mit dem Winkel $\alpha$ versehen werden (aufgrund des rechten Winkels). Dies muss man sich vorstellen, indem man die Stäbe $S_1$ und $S_2$ in ein Koordinatensystem legt und dupliziert (und dabei dreht). Man wird dann erkennen, dass die gestrichelte graue Linie den Stab $S_1$ widerspiegelt und die schräge Linie (dick schwarz) den Stab $S_2$. Aus der Aufgabenstellung ist bekannt, dass diese einen Abstand vom Winkel $\alpha$ besitzen.
In der obigen Grafik sind die Stäbe $S_1$ und $S_1$ solange gedreht worden, bis das gedrehte $S_2$ (gestrichelte Linie) im rechten Winkel zu dem ursprünglichen $S_2$ steht. Man sieht nun deutlich, dass dies genau dem obigen Teildreieck entspricht und damit den Winkel $\alpha$ besitzt.
Horizontalverschiebung
Aus der Grafik Verschiebung ist deutlich zu erkennen, dass
$u = |\triangle l_1| = \frac{F \cdot l}{EA \tan (\alpha)}$
Vertikalverschiebung
Um $v$ zu berechnen, müssen beide Teildreiecke miteinander addiert werden. Das erste Teildreieck kann mittels Sinus berechnet:
$\sin (\alpha) = \frac{\text{Gegenkathete}}{\text{Hypotenuse}} = \frac{\triangle l_2}{v} $
Umstellen nach $v$:
$v = \frac{|\triangle l_2|}{\sin (\alpha)} = \frac{F \cdot l}{EA \sin^2 (\alpha) \cos (\alpha)}$
Bei der Verschiebung werden die Längen immer in Beträge gesetzt, um die gesamte Verschiebung zu bestimmen.
Das zweite Teildreieck kann mittels Tangens berechnet werden:
$\tan (\alpha) = \frac{\text{Gegenkathete}}{\text{Ankathete}} = \frac{u}{v}$
Umstellen nach $v$:
$v = \frac{u}{\tan (\alpha)} = \frac{F \cdot l}{EA \tan^2 (\alpha)}$
Zusammenfassen ergibt:
$v = \frac{\triangle l_2}{\sin (\alpha)} + \frac{u}{\tan (\alpha)} = \frac{F \cdot l}{EA \sin^2 (\alpha) \cos (\alpha)} + \frac{F \cdot l}{EA \tan^2 (\alpha)}$.
Merke
Es ist äußerst ratsam sich trigonometrische Beziehungen und vor allem Winkelberechnungen in einem Dreieck vor Augen zu halten. Viele Probleme lassen sich mittels der Winkelfunktionen Sinus, Kosinus und Tangens lösen.
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