Inhaltsverzeichnis
In diesem Abschnitt wollen wir das Prinzip der virtuellen Arbeit anwenden, um die Schnittgrößen zu bestimmen. Die Vorgehensweise ist wie folgt:
- Gesuchte Bindungen lösen und Gelenk einfügen.
- Hauptpol(e) bestimmen -> Anwendung des Polplans.
- Verschiebungsfigur zeichnen.
- Prinzip der virtuellen Arbeit anwenden.
Die Vorgehensweise ist identisch mit der zur Bestimmung der Auflagerkräfte. Wir betrachten im Folgenden ein Beispiel, um zu zeigen, wie die Schnittgrößen mit dem Prinzip der virtuellen Arbeit berechnet werden können.
Beispiel: Prinzip der virtuellen Arbeit (Schnittgrößen)
Beispiel
Gegeben sei der obige Balken, welcher auf einem Festlager und einem Loslager gelagert ist. Es soll der Momentenverlauf zwischen den beiden Lagern mittels Prinzip der virtuellen Arbeit bestimmt werden.
1. Bindung lösen
Im ersten Schritt lösen wir die gesuchte Bindung. Es soll der Momentenverlauf zwischen den beiden Lagern bestimmt werden, demnach ist die zu lösenden Bindung das Schnittmoment $M$. Das Moment wird sichtbar, wenn ein Schnitt durch den Balken geführt wird (Schnittgrößen). Es treten zusätzlich Querkraft $Q$ und Normalkraft $N$ an beiden Schnittufern auf:
Wenn wir das Moment lösen und stattdessen als eingeprägte äußere Kraft anbringen, so verbleiben als Reaktionskräfte noch die Normalkraft $N$ und die Querkraft $Q$. Wie können wir nun also das Moment $M$ lösen und $N$ und $Q$ weiterhin als Reaktionskräfte erhalten? Indem wir ein Gelenk einfügen, das Momentengelenk. Dieses überträgt eine Normalkraft $N$ und eine Querkraft $Q$, aber kein Moment $M$:
Das Momentengelenk überträgt eine Normalkraft (längs der Balkenachsen) und eine Querkraft $Q$ (senkrecht zur Balkenachse). Der Schnitt durch das Momentengelenk ergibt also nicht das obige Ausgangsbild, weil das Schnittmoment $M$ fehlt. Um dieses zu berücksichtigen bringen wir links und rechts vom Gelenk das Moment $M$ als äußeres Moment an:
Führen wir jetzt einen Schnitt durch das Gelenk durch, so haben wir die Gelenkreaktionen $N$ und $Q$ links und rechts vom Gelenk gegeben, sowie das Moment $M$. Wir haben also das Ausgangsbild gegeben, nur dass in dem jetzigen Fall das Moment ein äußeres Moment darstellt.
Merke
Soll der Querkraftverlauf bestimmt werden, so wird ein Querkraftgelenk eingefügt (überträgt Moment und Normalkraft) und die Querkraft wird links und rechts vom Gelenk als äußere Kraft eingefügt.
Soll der Normalkraftverlauf bestimmt werden, so wird ein Normalkraftgelenk eingefügt (übertägt Moment und Querkraft) und die Normalkraft links und rechts vom Gelenk als äußere Kraft eingefügt.
Wichtig ist, dass wir das Gelenk in Abhängigkeit von $x$ angeben, weil der Momentenverlauf für einen beliebigen Schnitt im Bereich 4a ermittelt werden soll.
2. Polplan aufstellen
Wir haben insgesamt 2 Scheiben I und II gegeben, welche durch das Momentengelenk miteinander verbunden sind. Die Scheibe I ist auf einem Festlager, die Scheibe II auf einem Loslager gelagert.
Regel 2: Ein Festlager ist der Hauptpol (i) der dort angeschlossenen Scheibe.
-> Das Festlager ist der Hauptpol (1) der dort angeschlossenen Scheibe I.
Regel 3: Der Hauptpol (i) einer Scheibe, die auf einem verschieblichen Lager gelagert ist, liegt auf einer Geraden (Polstrahl) senkrecht zur Bewegungsmöglichkeit dieses Lagers.
-> Der Hauptpol (2) der Scheibe II, die auf dem Loslager gelagert ist, liegt auf dem Polstrahl senkrecht zur Bewegungsmöglichkeit. Wir zeichnen also eine gestrichelte vertikale Linie ein, auf welcher der Hauptpol (2) liegt.
Regel 4: Das Gelenk (Momentengelenk), welches zwei Scheiben miteinander verbindet, ist deren gemeinsamer Nebenpol. Der Nebenpol ist ein relativer Drehpol.
-> Das Momentengelenk, welches beide Scheiben I und II verbindet, ist deren gemeinsamer Nebenpol (1,2).
Regel 5: Der Nebenpol (i,j) liegt stets auf der Verbindungslinie der beiden Hauptpole (i) und (j).
-> Der Nebenpol (1,2) liegt auf der Verbindungslinie der beiden Hauptpole (1) und (2). Den Hauptpol (1) und den Nebenpol kennen wir bereits (Regel 2 und 4). Wir verbinden diese beiden Pole miteinander. Auf dieser Linie liegt auch der Hauptol (2). Wir wissen außerdem, dass der Hauptpol (2) auf der gestrichelten vertikalen Linien (Polstrahl) liegt (Regel 3). Der Schnittpunkt beider Linie ergibt den Hauptol (2). Dieser liegt also im Loslager.
3. Verschiebungsfigur
Wir legen einen beliebigen Drehsinn für die erste Scheibe fest (hier: im Uhrzeigersinn). Wir drehen also die Scheibe I vom Hauptpol (1) ausgehend um den Winkel $\delta \varphi$ im Uhrzeigersinn. Das Gelenk verschiebt sich senkrecht zur Balkenachse, also vertikal nach unten. Wir ziehen eine Linie vom Hauptpol (1) zur neuen Position des Gelenks (1,2). Betrachten wir als nächsten den Hauptpol (2) und ziehen eine Linie zur neuen Position des Gelenks (1,2), so sehen wir, dass sich zweite Scheibe gegen den Uhrzeigersinn um einen Winkel $\delta \vartheta$ dreht. Die Winkel sind unterschiedlich. Würde das Gelenk genau in der Mitte der beiden Lager liegen ($x = 2a$), so wären beide Winkel identisch. Das Gelenk wird aber beliebig in Abhängigkeit von $x$ zwischen den Lagern angebracht.
Hinweis
Wird das Genlenk beispielsweise bei $x = a$ angebracht, so ist der Winkel $\delta \varphi$ größer als der Winkel $\delta \vartheta$.
4. Prinzip der virtuellen Arbeit
Wir können als nächstes das Prinzip der virtuellen Arbeit aufstellen. Hierfür sollten im Vorhinein folgende Überlegungen getroffen werden:
- In welche Richtung zeigen die äußeren Kräfte? Arbeit wird nur verrichtet, wenn Kraft und Weg parallel sind. Haben wir also eine vertikale Kraft gegeben, so benötigen wir die vertikale Verschiebung.
- Welchen Abstand weisen die Kräfte zum Drehpol auf? Dazu betrachten wir zunächst Punkt 1. Suchen wir z.B. die vertikale Verschiebung, so benötigen wir den horizontalen Abstand der Kraft zum Drehpol. Ein Drehpol kann der Hauptpol oder ein Nebenpol sein.
- Berechnung der Abstände mittels Geometrie am rechtwinkligen Dreieck (Tangens), wobei $\tan(\alpha) = \alpha$ gilt, weil wir nur infinitesimale Verschiebungen betrachten.
In der nachfolgenden Grafik sind die geometrischen Zusammenhänge für das obige Beispiel aufgezeigt:
Streckenlast
Zunächst wird die Streckenlast in zwei Teilresultierenden links und rechts vom Gelenk zusammengefasst. Die Teilresultierende links vom Gelenk weist einen Betrag (Flächeninhalt der Teilstreckenlast) von $R_q = q_0 \cdot x$ auf. Bei einer rechteckigen Streckenlast wird der Flächeninhalt mit Höhe mal Breite berechnet. Die Höhe ist konstant bei $q_0$, die Breite ist $x$. Das Gelenk sitzt irgendwo zwischen $x = 0$ und $x = 4a$. Je nach dem wo das Gelenk angebracht wird, ändert sich also auch die Größe der linken Teilstreckenlast. Die linke Teilstreckenlast greift mittig an (im Schwerpunkt der rechteckigen Streckenlast), also bei der Hälfte der Breite: $\frac{x}{2}$.
So gehen wir auch für die zweite Teilstreckenlast vor. Der Flächeninhalt ist hier Höhe $q_0$ mal Breite $(4a - x)$. Auch hier ist die Größe der Teilstreckenlast abhängig von der Lage des Gelenks. Je weiter rechts das Gelenk liegt, desto kleiner wird diese. Die Teilstreckenlast greift in der Mitte der Breite an: $\frac{(4a - x)}{2}$.
Scheibe I
Danach gehen wir die obigen Überlegungen an. Wir betrachten zunächst die Scheibe I:
- An Scheibe I greift die Teilstreckenlast $q_0 x$ an. Sie zeigt vertikal nach unten, es wird also die vertikale Verschiebung gesucht. Die Richtung von vertikaler Verschiebung und Teilstreckenlast ist identisch -> positive Arbeit.
- Die vertikale Verschiebung der Teilstreckenlast (infolge der Drehung der Scheibe I im Uhrzeigersinn) kann auch mittels Winkel $\delta \varphi$ ausgedrückt werden, indem die Geometrie am rechtwinkligen Dreieck betrachtet wird. Es gilt $\tan(\delta \varphi) = \frac{\text{Gegenkathete}}{\text{Ankathete}}$. In der obigen Grafik sehen wir deutlich, dass die Gegenkathete die vertikale Verschiebung darstellt. Wir lösen nach dieser auf: $\text{Gegenkathete} = \text{Ankathete} \cdot \tan(\delta \varphi)$. Die Ankathete ist der horizontale Abstand vom Hauptpol (1) zur Teilresultierenden. Also: $\text{vertikale Verschiebung} = \frac{x}{2} \cdot \tan(\delta \varphi)$.
- Es gilt $\tan(\delta \varphi) = \delta \varphi$ und damit: $\text{vertikale Verschiebung} = \frac{x}{2} \cdot \delta \varphi$.
Für das linksdrehende Moment $M$ an Scheibe I gilt die Verdrehung um $\delta \varphi$.
Scheibe II
Als nächstes betrachten wir die Scheibe II. Dort greifen die Teilresultierende $q_0 (4a - x)$ an, das rechtsdrehende Moment $M$ sowie die Einzelkraft $F$. Wir führen die obigen Überlegungen für die Kräfte an:
$q_0 (4a - x)$ greift vertikal nach unten an, es wird also die vertikale Verschiebung gesucht. Diese kann mit dem Winkel $\delta \vartheta$ ausgedrückt werden. $\text{Vertikale Verschiebung} = \text{Ankathete} \cdot \tan(\delta \vartheta)$. Die Ankathete ist der Abstand der Teilresultierenden zum Hauptpol (2): $\frac{(4a - x)}{2}$. Wir erhalten also mit $\tan(\delta \vartheta) = \delta \vartheta$ die vertikale Verschiebung zu: $\frac{(4a - x)}{2} \cdot \delta \vartheta$.
Für das rechtsdrehende Moment $M$ an Scheibe II gilt die Verdrehung um $\delta \vartheta$.
Die Einzelkraft $F$ zeigt vertikal nach unten, wir benötigen also zur Berechnung der Arbeit den vertikalen Abstand. Mittels Geometrie erhalten wir den vertikalen Abstand in Anhängigkeit vom Winkel zu: $a \cdot \delta \vartheta$.
Wir stellen die virtuelle Arbeit auf gemäß:
Methode
$\delta W = \sum F_i \cdot r_i = 0$
bzw.
Methode
$\delta W = \sum M_i \delta \varphi = 0$
Dabei ist $r_i$ der Abstand in Richtung der Kraft $F_i$. Wir haben diesen für die obigen Kräfte in Abhängigkeit vom Winkel bestimmt.
$\delta W = (q_0 x) \cdot \frac{x}{2} \cdot \delta \varphi - M \cdot \delta \varphi - M \cdot \delta \vartheta + q_0 (4a -x) \cdot \frac{(4a - x)}{2} \cdot \delta \vartheta - F \cdot a \cdot \delta \vartheta = 0$
Merke
Die Arbeit wird negativ, wenn Kraft und Weg genau entgegengesetzt gerichtet sind: Die Einzelkraft $F$ zeigt vertikal nach unten, die Verschiebung von $F$ erfolgt vertikal nach oben.
Ein Moment wird negativ, wenn Drehsinn von Moment und Verschiebung genau entgegengesetzt verlaufen: So ist das linke Moment ein Linksdrehendes, die Verschiebung erfolgt aber in einer Rechtsdrehung $\delta \varphi$.
Es sind zwei Winkel gegeben. Wir müssen einen eliminieren, indem wir den geometrischen Zusammenhang zwischen diesen ermitteln. Wir können die vertikale Verschiebung des Gelenks an einer Stelle $x$ mit beiden Winkeln ausdrücken und gleichsetzen:
Methode
$x \; \delta \varphi \; \; \; $ vertikale Verschiebung des Gelenks der Stelle $x$
$(4a - x) \; \delta \vartheta \; \; \; $ vertikale Verschiebung des Gelenks an der Stelle $x$
Gleichsetzen:
$x \; \delta \varphi = (4a - x) \; \delta \vartheta$
Nach $\delta \varphi$ auflösen:
$\delta \varphi = \frac{(4a - x)}{x} \delta \vartheta$
Einsetzen:
$\delta W = q_0 x \cdot \frac{x}{2} \cdot \frac{(4a - x)}{x} \delta \vartheta - M \cdot \frac{(4a - x)}{x} \delta \vartheta - M \cdot \delta \vartheta + q_0 (4a -x) \cdot \frac{(4a - x)}{2} \cdot \delta \vartheta - F \cdot a \cdot \delta \vartheta= 0$
$\delta \vartheta$ kürzen:
$\delta W = q_0 x \cdot \frac{x}{2} \cdot \frac{(4a - x)}{x} - M \cdot \frac{(4a - x)}{x} - M + q_0 (4a -x) \cdot \frac{(4a - x)}{2} - F \cdot a = 0$
Zusammenfassen:
$\delta W = q_0 \cdot \frac{x}{2} \cdot (4a - x) - M \cdot \frac{(4a - x)}{x} - M + q_0 \cdot \frac{(4a - x)^2}{2} - F \cdot a = 0$
$\delta W = q_0 \cdot \frac{x}{2} \cdot (4a - x) - M \cdot ( \frac{(4a - x)}{x} + 1) + q_0 \cdot \frac{(4a - x)^2}{2} - F \cdot a = 0$
Nach $M$ auflösen:
$M \cdot ( \frac{(4a - x)}{x} + 1) = q_0 \cdot \frac{x}{2} \cdot (4a - x) + q_0 \cdot \frac{(4a - x)^2}{2} - F \cdot a $
Wir vereinfachen den Ausdruck in der Klammer:
$\frac{(4a - x)}{x} + 1 = \frac{4a}{x} - \frac{x}{x} + 1 = \frac{4a}{x} -1 + 1 = \frac{4a}{x} $
Nach $M$ auflösen:
$M \cdot \frac{4a}{x} = q_0 \cdot \frac{x}{2} \cdot (4a - x) + q_0 \cdot \frac{(4a - x)^2}{2} - F \cdot a $
$M = \frac{x}{4a} [q_0 \cdot \frac{x}{2} \cdot (4a - x) + q_0 \cdot \frac{(4a - x)^2}{2} - F \cdot a] $
Die Terme mit der Streckenlast zusammenfassen:
$q_0 \cdot \frac{x}{2} \cdot (4a - x) + q_0 \cdot \frac{(4a - x)^2}{2} $
$= q_0 \cdot (4a - x) \cdot [\frac{x}{2} + \frac{4a - x}{2}]$
$= q_0 \cdot (4a - x) \cdot [ \frac{x + 4a - x}{2}] $
$= q_0 \cdot (4a - x) \cdot [ \frac{4a}{2}] $
$= q_0 \cdot 4a \cdot \frac{4a}{2} - q_0 \cdot x \cdot \frac{4a}{2}$
$= q_0 \cdot \frac{16a^2}{2} - q_0 \cdot x \cdot \frac{4a}{2}$
$= q_0 \cdot 8a^2 - q_0 \cdot x \cdot \frac{4a}{2}$
$=q_0 \cdot 8a^2 (1 - \frac{x}{4a})$
Es ergibt sich also ein Momentenverlauf von:
Methode
$M(x) = \frac{x}{4a} [q_0 \cdot 8a^2 (1 - \frac{x}{4a}) - F \cdot a] $
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